Die Grundsätze und Richtlinien des schweizerischen Presserats könnten hehrer kaum sein. Da heisst es schon in Artikel 1: Journalisten „halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren.“ Anhand einiger Beispiele aus jüngerer Zeit lässt sich leicht darlegen, dass es viele Journalisten mit dieser Wahrheitspflicht nicht sehr genau nehmen. Vielmehr wird deutlich, dass viele eigentlich lieber Politiker wären. Das ist erstaunlich, vor allem bei solchen, die dem Schreibenden regelmässig vorwerfen, er sei ein Möchtegern-Journalist.
Nehmen wir Herrn Städler vom Tages-Anzeiger, der sich von einem Ehepaar in einem klassischen Mobbing-Fall gegen Christoph Mörgeli instrumentalisieren liess. Er musste von Anfang an haargenau wissen, in welcher Absicht ihm vertrauliche Informationen zugespielt wurden. Und dieser Mann fordert nun Transparenz? Niemand könnte sie schneller schaffen als er. Aber es geht um einen verhassten SVP-Nationalrat, und da gelten die Regeln der Fairness nicht.
Viele Journalisten halten sich für kritisch, dabei sind sie bloss boshaft. Ein besonders prächtiges Exemplar dieser Sorte, Christof Moser vom „Sonntag“, unterstelle mir kürzlich, ich würde den wahnsinnigen Schützen von Biel, Peter Hans Kneubühl, gut finden und den Schusswaffengebrauch gegen Polizisten im Dienst als legitimen Widerstand gegen die Staatsgewalt billigen. Wäre es dem Journalisten um die Wahrheit gegangen, hätte er sich von der Absurdität seiner These leicht überzeugen können. Ein Blick auf meine Website oder Rückfragen bei Menschen, die mich kennen, hätten genügt. Offenbar war eine andere Story geplatzt, und so konstruierte er rasch vor Redaktionsschluss eine neue, von der er sich einen Schlag gegen einen SVP-Politiker erhoffte. So etwas hat mit kritischem Journalismus nichts zu tun. Eine solche Person gehört nicht in eine seriöse Redaktion; ebenso wenig der Chefredaktor, Patrik Müller, der solches Treiben zulässt.
Einschränkend zu den oben erwähnten Richtlinien müsste man vielleicht besser sagen, die Öffentlichkeit habe ein Recht, nicht belogen zu werden. Es ist nämlich nicht Pflicht von Journalisten, die öffentliche Neugier zu befriedigen. Jene des öffentlichen Interesses reicht völlig. Ein grosses Problem mit dieser Unterscheidung bekundet Francesco Benini von der NZZ am Sonntag, der es nicht fassen kann, dass ein Schwiegersohn in einer eidgenössischen Vorlage eine andere Meinung hat als sein Schwiegervater. Und ich war dabei, als er fragte, was denn eigentlich die Frau Gemahlin dazu meine. Wie muss ein Hirn beschaffen sein, dem der Gedanke, eine erwachsene Frau könne sich 2013 ohne Vater und Ehemann eine eigene Meinung bilden, frivol erscheint? Und seit wann liegt es im öffentlichen Interesse, zu erfahren, was eine Bürgerin in einer geheimen Abstimmung auf ihren Stimmzettel schreibt? Auch hier interessiert der Sachverhalt nur sehr am Rande. Nur um Zwietracht zu säen, kramte der betreffende Redaktor uralte Geschichten aus der Mottenkiste. Das ist Nährboden für seine „Arbeit“. Und schliesslich ist nächste Woche wieder Sonntag.
Kritisches Denken ist eine Geisteshaltung. Nach Karl Popper zeichnet sich diese dadurch aus, dass sie Wahrheiten nur als vorläufig anerkennt, und darum stets hinterfragt, was gewiss zu sein scheint. Diesen kritischen Rationalismus zu pflegen, wäre vornehmste Aufgabe der Journalisten. Doch leider huldigen viele von ihnen – aus rein politischen Gründen – lieber den Mächtigen der Landesregierung, anstatt diese intellektuell herauszufordern.
Warum kann der Bundesrat handstreichartig den Atomausstieg beschliessen, ohne dafür ein schlüssiges Konzept vorlegen zu müssen? Warum konfrontiert niemand die Regierung mit der lapidaren Feststellung, dass das Bankgeheimnis im Interesse des Kunden und nicht der Bank liegt? Warum muss keiner erklären, warum die direkte Demokratie plötzlich eine Schwäche und keine Stärke unseres Landes mehr sein soll? Fragen gibt es genug. Doch damit wir über die Antworten diskutieren und streiten können, müssen sie erst gestellt werden.
Die geistige Trägheit des medialen Mainstreams hat ein erschreckendes Ausmass angenommen. Obwohl die Richtlinien, die sie sich selber gegeben haben, dazu verpflichten, für die Medienfreiheit zu kämpfen, rührte niemand einen Finger als die EU-Kommission letzte Woche bekannt gab, sie plane eine gross angelegte Intervention in den freien Wettbewerb von Medien und Meinungen – zur Wahrung europäischer Werte. Die politische Absicht verdrängt hier das kritische Denken.
Wer von diesen Ausführungen ausgenommen ist, weiss das. Und wenn sich ein paar Journalisten dennoch zu Unrecht betroffen fühlen sollten, ist das auch nicht weiter schlimm.