Die meisten Kommentare im Nachgang der Europawahl offenbaren vor allem geistige Armut. Der Gedanke, dass die Wähler eine Wahl ernst nehmen könnten, erscheint vielen Politikern, Qualitätsjournalisten und anderen „Experten“ als absurd. Sie pflegen lieber ihre abwegigen Theorien.
Anfang der 90er-Jahre besuchte ich im Bezirk Meilen eine der ersten Podiumsveranstaltungen zum EWR-Beitritt. Der Bundesrat behauptete damals noch, eine institutionelle Anbindung an die damalige EG komme nicht in Frage, und die Politiker waren noch dabei, sich zu dem Vertragswerk eine Meinung zu bilden. Um der Veranstaltung gleich zu Beginn Würze zu verleihen, stellte Moderator Peter Stücheli von der NZZ Nationalrat und SVP-Parteipräsident Christoph Blocher folgende Frage: „Der Unternehmer David de Pury hat gesagt, die Zugehörigkeit zum EWR sei für die Schweizer Wirtschaft überlebenswichtig. Herr Blocher, wollen Sie die Wirtschaft ruinieren?“ Tatsächlich war Herr de Pury erst vor Kurzen von der ABB als Co-Präsident und Lobbyist angeheuert worden. Zuvor arbeitete er als Wirtschaftsdiplomat beim Bundesamt für Aussenwirtschaft. Unternehmer Christoph Blocher war darum um eine Antwort nicht verlegen und stellte klar: „Wenn Herr de Pury Unternehmer ist, dann bin ich auch Staatssekretär, schliesslich war ich auch schon im Bundeshaus.“
Mit religiösem Eifer für die EU
Diese Anekdote kam mir in den Sinn, als ich im Nachgang der Wahl des EU-Parlaments vom vergangenen Sonntag einmal mehr feststellen musste, wie leichtfertig Journalisten mit Etiketten um sich werfen. So wird einer mit der richtigen Gesinnung, wenn er „EU“ richtig buchstabieren kann, flugs zum „Europa-Experten“, und wer hingegen Europa vor der EU schützen will, ebenso rasch zum „Populisten“, „EU-Skeptiker“, „EU-Feind“ oder gar zum Rechtsextremen. Der zwangsgebührenfinanzierte deutsche Staatssender ARD machte aus EU-Skeptikern sogar kurzerhand Demokratie-Skeptiker und verwendete beides synonym. Die Clique der Wohlmeinenden, die selbst für Bombenattentate islamistischer Terroristen noch Worte der Rechtfertigung und Entschuldigung findet, greift zum verbalen Zweihänder, wenn es um die EU geht, der Europa angeblich Frieden zu verdanken hat. „Die EU, das „Friedensprojekt“, ist gut, wer sie kritisiert, muss demnach schlecht sein, muss Krieg wollen“, so lautet das Credo derer, die Andersdenkenden gerne schwarz-weiss-Denken vorwerfen.
Der Experte, er keiner ist
Einer, der von der selbsternannten Qualitätsjournaille gerne als „Experte“ für EU-Fragen beigezogen wird, ist der pensionierte Professor Dieter Freiburghaus, der kaum eine Gelegenheit auslässt, um auf Tages-Anzeiger-Online zu beweisen, dass er vollkommen zu unrecht für einen Experten gehalten wird. Das heisst, für irgendetwas ist er bestimmt Experte. Nur nicht für das, worüber ihn die Journalisten regelmässig befragen. Das Praktische bei ihm ist, dass er immer die gewünschten Antworten liefert. Dafür muss Freiburghaus im Rahmen dieser publizistischen Symbiose nie befürchten, mit einer kritischen Frage konfrontiert zu werden.
Im Zusammenhang mit dem Wahlausgang in Frankreich behauptete Freiburghaus unwidersprochen und ohne Beleg: „In Frankreich war die Bevölkerung bisher offen gegenüber der EU.“ Ein intelligenter und vorbereiteter Journalist hätte an dieser Stelle nachgefasst und darauf hingewiesen, dass Frankreich am 29. Mai 2005 den Verfassungsvertrag der EU verwarf, nachdem es 13 Jahre vorher der berühmten Vertrag von Maastricht mit 51 zu 49 Prozent noch sehr knapp gutgeheissen hatte. Ist es da nicht ganz einfach Blödsinn von einer grundsätzlichen Offenheit sprechen? Müsste man nicht viel mehr eine tiefe Spaltung der Gesellschaft konstatieren? Und dürfte nicht die Missachtung des „Non“ von 2005 durch die so genannten etablierten Parteien nicht wesentlich dazu beigetragen haben, dass es die Franzosen nun mit einer so genannten Protestpartei versuchen wollen? Ja ist es nicht geradezu eine logische Folge und Zeugnis von der Intelligenz der Bevölkerung? Analoges gilt übrigens für Dänemark, das 1992 den Maastricht-Vertrag und 2009 die Einführung des Euro verwarf. Doch, wie gesagt, das sind alles Fragen und Zusammenhänge, auf die ein intelligenter Journalist eingegangen wäre.
Opium für Journalisten
Schweizer Qualitätsjournalisten erkennt man daran, dass sie das eigene Land schlecht reden und suggerieren, wir müssten froh und dankbar sein, wenn sich einer der Hohen Herren zu Brüssel überhaupt dazu herablässt, mit uns zu reden. So auch der Tenor bei Professor Freiburghaus.
Deutsche Qualitätsjournalisten sind hingegen regierungstreuer als die Regierung selber, und wie diese sind sie vom Gedanken beseelt, die Welt müsse am deutschen Wesen genesen. Bemerkenswerterweise sind es gerade diejenigen, die diesen deutschen Hegemonieanspruch infrage stellen, die als „Rechtsaussenpolitiker“ und „Rechtspopulisten“ gebrandmarkt werden. Es gilt als ausgemachte Sache, dass Deutschland in einem Friedensprojekt das Sagen haben muss. Wer könnte schliesslich besser für Frieden sorgen, als derjenige, der den letzten Krieg vom Zaun gerissen hat?
Deutschland weiss, was für die anderen gut ist
Im Stile eines Oberlehrers der Völker zieht Roland Nelles auf Spiegel-Online „Fünf Lehren der Europawahl“. Was mit Artikel 20 des Grundgesetzes seines eigenen Landes gemeint sein könnte, scheint ihm unverständlich. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, ist schliesslich auch eine überaus komplizierte Formulierung für Menschen mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein.
Für den Genossen Nelles lautet darum seine erste Forderung: „Die EU-Freunde dürfen sich von den Populisten jetzt nicht irremachen lassen.“ Das Wichtigste sei jetzt „politische Führung“. Und Weiter: „Nicht weniger, sondern mehr Europa ist die Antwort auf den Angriff der Einfältigen. Die europäische Integration muss vorangetrieben werden.“ Das Ganze gipfelt in der Aufforderung: „Macht etwas draus, schlagt zurück, Europa-Fans!“ In Herrenmenschen-Tradition gibt Nelles auch gleich anderen Ländern die Marschrichtung vor: Frankreich müsse aufhören, in Weltschmerz zu versinken und „sich bei den nächsten Wahlen klar gegen rechts“ positionieren.
Natürlich weiss Nelles auch, was England braucht: Die tapferen EU-Fans dort müssten Unterstützung bekommen. „Sie müssen von der restlichen EU in die Lage versetzt werden, dem eigenen Publikum Erfolge bei den geforderten Reformen der EU-Institutionen vorweisen zu können.“ Welche Erfolge gemeint sein könnten, behält der Qualitätsjournalist für sich. Dafür legt er seine Beweggründe offen. Es ist nicht etwa Altruismus oder gar die Besinnung auf abendländische Wurzeln, die ihn wünschen lassen, England möge der EU erhalten bleiben. Nein, es ist purer Egoismus, das Streben nach Deutscher Hegemonie: „Eine EU ohne Grossbritannien wäre vor allem für Deutschland schlecht, gerade in wirtschaftspolitischen Fragen ticken die Briten eher so wie die Deutschen.“ Und dann kommt ein Satz, der an Arroganz kaum zu überbieten ist und sich mit den hehren Prinzipien einer Wertegemeinschaft nicht vereinbaren lässt: „Oder wollen wir künftig allein mit Italienern und Griechen über die Kunst des ordentlichen Haushaltens diskutieren?“
Einheit ohne Vielfalt
Schliesslich geht Nelles doch noch auf Deutschland ein, das sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen dürfe. Und als hätte es noch eines Beweises für seine undemokratische Gesinnung bedurft, gibt es zum Schluss seines Artikels noch der Hoffnung Ausdruck die „Alternative für Deutschland“ (AfD) möge sich hoffentlich bald in Luft auflösen. – Das ist es also, was man sich unter dem „bunten Europa“ vorzustellen hat, von dem immer dann die Rede ist, wenn gerade keine Wahlen anstehen. Denn die EU in ihrer heutigen Form und Demokratie passen nicht zusammen. Entweder man ist für die EU oder für die Demokratie. Beides geht nicht. Und hiess es früher, etwas fürchten, wie der Teufel das Weihwasser, passt heute besser, „etwas fürchten, wie die EU die Demokratie“.