Politiker, wie habt Ihr’s mit der Demokratie?

Das beste Mittel zum Schutz der Freiheit ist die Demokratie. Sie schützt uns insbesondere auch vor jenen Politikern, die behaupten, sie wollten sie schützen.

Es ist kein Naturgesetz, dass wir in relativer Freiheit leben dürfen. Wie Ronald Reagan in seiner Antrittsrede als Gouverneur von Kalifornien ausführte, ist die Freiheit nie mehr als eine Generation von ihrem Untergang entfernt. Den besten Schutz vor dem Sturz in die Tyrannei bietet die Demokratie. Gleichwohl gilt es, das von Churchill verbreitete Bonmot im Hinterkopf zu behalten, wonach die Demokratie die schlechteste Regierungsform sei, abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.

Es gibt viele Formen von Demokratie. So ist die Schweiz beispielsweise stolz auf ihre Volksrechte, die den USA fremd sind, obwohl die Eidgenossen deren Verfassung in zentralen Teilen kopierten. In der Schweiz wählt das Volk (der Souverän), nicht nur seine Repräsentanten, es entscheidet auch in vielen Sachfragen, während in Republiken wie den USA oder Deutschland, das Volk jene Personen wählt, die dann über die Sachfragen entscheiden. Republik und Demokratie sind zwar keine Synonyme, aber es verbindet sie die Idee, die «res publica» nicht einer einzelnen Person zu überlassen. Entscheidend ist, ob alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wie es das deutsche Grundgesetz formuliert, und wie es der Begriff «Volksherrschaft» impliziert. Denn nichts anderes bedeutet das altgriechische Begriffspaar aus «Demos» und «kratein», aus dem sich der Begriff «Demokratie» herleitet.

Das Volk, nicht die Bevölkerung

Wo die Staatsgewalt nicht vom Volke ausgeht, kann man nicht von einer Demokratie sprechen. So einfach ist das. Doch, nun spielen sich ausgerechnet jene politischen Kreise zu Rettern der Demokratie auf, die sich bereits an der Inschrift «Dem deutschen Volke» am Reichstagsgebäude in Berlin stören und stattdessen lieber von der «Bevölkerung» reden. Diese Unterscheidung ist keineswegs bloss semantischer Natur. Sie ist ein Angriff auf ein zentrales Element eines jeden Gemeinwesens, das sich ja erst durch die Abgrenzung gegenüber jenen, die nicht dazugehören, definiert. «Ein guter Zaun macht gute Nachbarn», heisst es, und allzu oft ist es gerade das Fehlen klarer Grenzen, das zu Streit führt.

Die Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht, wird den Politikern nur für eine gewisse Zeit übertragen. Und auch der Staat als solcher verfügt über keine Macht ausser der, die ihm die Bürger zugestehen. Nicht erst seit «Corona» ist hier eine Umkehr der Verhältnisse zu konstatieren. Der Staatsapparat, der seinen Bürgern Rechenschaft abzulegen hat, entwickelte sich zum Kontrolleur und Führer des Souveräns, der dessen Verhalten längst auch in Bereichen, die durch Freiheitsrechte vor seinem Zugriff geschützt sind, steuert. Das lässt sich auch schön am Beispiel der Übertagung von Macht auf Zeit aufzeigen. So haben bereits mehrere Bundesländer die Amtsperioden von vier auf fünf Jahre verlängert und auch auf Bundesebene wird ein solcher Schritt diskutiert. Nun trifft zu, dass in Deutschland das Parlament mit qualifizierter Mehrheit die Verfassung ändern kann. Doch darf dieses Recht unter dem Gesichtspunkt der Demokratie, also unter der Prämisse, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, auch dazu benutzt werden, das eigene Mandat auszuweiten? Man mag einwenden, durch die Verlängerung der Legislaturperiode um ein Jahr bleibe die freiheitlich-demokratische Grundordnung noch immer gewahrt. Wie aber liesse sich eine Verlängerung auf zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre verhindern?

Nur die Demokratie kann die Demokratie schützen

Die Staatsgewalt geht nur dann vom Volke aus, wenn dieses wenigstens die Möglichkeit hat, den Umfang der Kompetenzen, die es abgeht zu begrenzen und nötigenfalls korrigierend einzugreifen. Ist das nicht der Fall, verkommt der Staat über kurz oder Lang zu einem Selbstbedienungsladen der Politiker. Das Volk hat dann nur noch die Rechnung zu begleichen.

Dass auch Gerichte die Demokratie nur unzureichend zu schützen vermögen, hat die Geschichte hinlänglich bewiesen. Auch Richter sind Menschen, die gerne dem Zeitgeist folgen und häufig nicht die Kraft haben, den Regierenden Grenzen aufzuzeigen. So sind Demokratie und die Beachtung von Menschenrechten in der Weltgeschichte eine Ausnahmeerscheinung. Die meiste Zeit über galt das «Recht des Stärkeren». Auch ist die Geschichte der Demokratie von Brüchen und Rückschlägen durchzogen, sie musste erkämpft und häufig mit Blut bezahlt werden, und in «guten Zeiten» schwindet der Sinn für sie. Und weil Demokratie und Menschenrechte nicht auf einen Schlag verschwinden, sondern erodieren, sind Wachsamkeit und Wehrhaftigkeit aller Demokraten entscheidend.

Die Feststellung, dass Politiker, Behörden und Justiz allesamt an der Aufgabe scheitern, die Demokratie zu schützen, führt uns zurück zu Churchills eingangs erwähnten Zitat: Die Demokratie ist das Beste, weil alles andere schlechter ist.

Die reife Demokratie

Am 29. April 1954 ging der grosse Schweizer Staatsrechtler Zaccharia Giacometti in seiner Festrede als Rektor der Universität Zürich der Frage nach, welchen Voraussetzungen es bedarf, damit eine Demokratie, in der die Menschenrechte optimal geschützt sind, funktionieren kann. Dazu führte er wörtlich aus:

Im Volke lebendig

«Erstens muss die Freiheitsidee im Individuum und im Volke lebendig und das rechts­staatliche Naturrecht zwar nicht als Recht, aber als ethische Kraft wirksam sein; es müssen mit anderen Worten freiheitliche Wertvorstellungen herrschen, aber nicht als vom Augenblick geborene euphoristische Stimmungen oder opportunistische Eingebungen, sondern als tiefe politische Überzeugungen, die das Bewusstsein des Volkes dauernd beherrschen und von den treibenden Kräften des politischen Lebens getragen werden.

Ein Schatz freiheitlicher Tradition

Zweitens muss das Volk eine freiheitliche Tradition besitzen. Seine freiheitlichen Überzeugungen müssen in einer solchen Tradition verwurzelt sein. Tradition ist aber, wie Max Huber gesagt hat, geschichtliches Bewusstsein, und freiheitliche Tradition infolgedessen freiheitliches historisches Bewusstsein. Ein solches geschichtliches Bewusstsein besitzt aber die Demokratie in dem Falle, dass eine freiheitliche Vergangenheit auf sie nachwirkt, dass also die vorausgegangene Generation der lebenden Generation einen Schatz an freiheitlichen politischen Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen überliefert hat.

Verinnerlichung und Weitergabe

Drittens muss sich die lebende Generation diesen ererbten Schatz an freiheitlichen politischen Einsichten und an freiheitlichen politischen Erfahrungen ihrerseits aneignen, ja erkämpfen durch entsprechende politische Erziehung, Erprobung und Bewährung als Verfassungsgesetzgeber und einfacher Gesetzgeber einer echten Demokratie.»

Die ganze Rede ist hier nachzulesen: https://www.zanetti.ch/?p=495245

Dieser Artikel ist zuerst im „Sandwirt“ erschienen: https://www.dersandwirt.de/politiker-wie-habt-ihrs-mit-der-demokratie/

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