Das Verhalten der Linken nach verlorenen Abstimmungen ist so voraussehbar, wie der Speichelfluss von Pawlows Hunden beim Läuten der Glocke. Kaum war klar, dass die «Konzernverantwortungsinitiative» das Volksmehr zwar erreichen, aber am Ständemehr scheitern würde, forderten linke Wortführer dessen Abschaffung. In einer direkten Demokratie, in der grundsätzlich alles zur Disposition gestellt werden darf, ist diese Forderung selbstverständlich legitim – mag sie auch noch so sehr Ausdruck politischer Unreife sein.
Das grösste Problem dieser «Lösungsorientiertheit» in der Politik ist die Abkehr vom Generell-Abstrakten hin zum Individuell-Konkreten. Der Gesetzgeber sollte sich auf Ersteres konzentrieren und allgemeingültige Regeln aufstellen. Doch in einer Zeit der Boulevardisierung der Medien, die von der raschen Aufmerksamkeit lebt, rückt zwangsläufig der Einzelfall ins Zentrum des Interesses. Beim kleinsten Zwischenfall wird vom Gesetzgeber entschlossenes Handeln gefordert. Und bekanntlich fürchten Politiker nichts mehr als den Vorwurf der Untätigkeit.
Vor 65 Jahren scheiterte letztmals eine Volksinitiative «nur» am Ständemehr. Als Nachweis, dass diese doppelte Hürde für Verfassungsänderungen die Schweizer Politik nachhaltig lähme, eignet sich dieses Faktum damit nur schlecht. Die meisten Staaten verlangen für Verfassungsänderungen eine qualifizierte Mehrheit. In Deutschland beispielsweise braucht es dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die «Konzernverantwortungsinitiative» wäre in der Schweiz also auch nach dieser Regel nicht in den Verfassungsrang erhoben worden. Das Ständemehr hingegen wird noch lange Zeit Bestandteil unserer Bundesverfassung sein. Denn zu seiner Abschaffung bedürfte es eines Ständemehrs, und die Annahme, die Kantone würden ihrer eigenen Entmachtung zustimmen, ist illusorisch.
Es geht um den Zusammenhalt des Landes
Gleichwohl ist es beunruhigend, wie gewisse Kreise in ihrer Obsession für ein bestimmtes Ziel, jeglichen Kollateralschaden in Kauf nehmen. Beim Ständemehr geht es, wie bei der Neutralität, die von den gleichen Kreisen demontiert wird, um nicht weniger als um den Zusammenhalt des Landes. Die Angst der kleinen Kantone, 1848 von «den Grossen» dominiert zu werden, war real, schliesslich ist dem Wandel von Staatenbund zum Bundesstaat ein Bürgerkrieg vorangegangen. Ohne Garantien, wie das Zweikammersystem und das Ständemehr, wären die kleinen Kantone der Eidgenossenschaft wohl gar nicht beigetreten.
Mit dem «Uster Tag» gedenken wir im Kanton Zürich jedes Jahr dem Aufbegehren der Landbevölkerung gegen die Dominanz der Städte. Dieser Stadt-Land-Antagonismus ist keineswegs überwunden. Im Gegenteil, die Städte schliessen sich zusammen, lobbyieren in Bern und fordern mehr Macht. Darum wäre es staatspolitisch ein enormer Fehler, das uns zum Ausgleich zwingende System des Ständemehrs abzuschaffen.
Auch die Neutralität, die linke Vordenker und Koryphäen, wie Adolf Muschg, für einen unanständigen Furz halten, ist für den Zusammenhalt der vielfältigen Schweiz von grösster Wichtigkeit. Die Schweiz war nicht von einem Tag auf den anderen neutral, weil ihre Männer plötzlich feige geworden wären, oder weil man von den Kriegen der anderen profitieren wollte. Die konfessionellen, kulturellen und sprachlichen Unterschiede machten es ganz einfach unmöglich, in einem europäischen Konflikt Partei zu ergreifen, ohne dadurch das eigene Land zu spalten. Aus der Erkenntnis, dass uns Eidgenossen mehr eint als trennt, entstand das fantastische Konzept der Nichteinmischung in fremde Händel, die uns über viele Generationen hinweg Frieden bescherte. Es muss von finsteren Mächten getrieben sein, wer das ändern will.
Lösungsorientiert? Nein, totalitär!
Bemerkenswert ist schliesslich, dass es die gleichen Leute sind, die einerseits das Ständemehr abschaffen wollen, und andererseits lautstark die Einführung von Frauenquoten fordern. Beides sind Quoten, die auf eine «Korrektur» eines Entscheides abzielen. Doch es gibt gewichtige Unterschiede. Das Ständemehr will Minderheiten schützen, während Frauen die Mehrheit unserer Bevölkerung stellen. Sie hätte also theoretisch die Möglichkeit, reine Frauengremien zu bestellen, was sie offensichtlich – aus freiem Willen heraus nicht tun. Es braucht schon eine gehörige Portion Arroganz, um sich, im vermeintlichen Interesse der Frauen, über deren Stimmverhalten hinwegzusetzen. Während das Ständemehr eine Stimmengewichtung, die von der Zahl der Stimmberechtigten abweicht, vornimmt, wie sie im Übrigen sogar die EU kennt, zielt die so genannte Frauenquote direkt auf das Ergebnis. Ja, sie lässt kein anderes Ergebnis zu, als das von den «Lösungsorientierten» angestrebte. Dieses Postulat macht nicht einmal vor rein privatrechtlichen Verhältnissen halt, indem beispielsweise die Anzahl Frauen in Verwaltungsräten vorgeschrieben wird. Nicht Eignung, Sympathie oder Antipathie sollen entscheiden, sondern der Wille der «Lösungsorientierten». Das ist totalitär.