Gemäss Winston Churchill heben sich Staatsmänner von Politikern dadurch ab, dass sie an die nächste Generation und nicht nur an die nächste Wahl denken. Eindeutig in die letztere Kategorie gehört die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie brachte das „Kunststück“ fertig, „ihre“ Partei jeglicher Substanz zu berauben. Angela Merkel ist die Partei, und die Partei ist Angela Merkel. Das hatten wir doch schon einmal, und es ist nicht gut herausgekommen. Den Schaden wird diesmal allerdings weniger das Land als vielmehr die Partei tragen, die zuliess, zu einer Claqueuren-Truppe, die den Kanzler nominiert, zu werden.
Gestellt wurden die Weichen für diese geistige und moralische Wende bereits vor langer Zeit. Damals, als Angela Merkel beschloss, sich nicht mehr für Politik und nur noch für ihr Amt zu interessieren. Seit jenem Tag ging es ihr nur noch darum, oben zu bleiben. Gestaltungswille oder ein klares Konzept sind bei ihr nicht zu erkennen. Einzig: Wer ihr in den vergangenen Jahren gefährlich zu werden drohte, wurde aus dem Weg geräumt. Dasselbe passierte auch mit sämtlichen Positionen, die ihrer Parte noch so etwas wie Profil verliehen und darum lästig waren. Anstatt die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu suchen, wurde dessen Programm kurzerhand übernommen. Einzige Maxime war fortan die totale Beliebigkeit. Nur bloss keinen Ärger. Oben bleiben ist alles, wie beim Rodeo.
Ob man für oder gegen etwas ist, wird in der Regierung Merkel weitgehend aufgrund von Meinungsumfragen entschieden, von denen das Bundeskanzleramt durchschnittlich drei pro Woche in Auftrag gibt. Gerade kürzlich hat eine Untersuchung des „Spiegel“ ergeben, dass es Sätze der Demoskopen fast wortwörtlich in Regierungserklärungen schaffen. Kann eine Regierung mit einer solchen Verantwortung tiefer sinken?
Links neben einer demokratisch legitimierten Partei
Während Jahrzehnten galt in den Unionsparteien das Diktum von Franz Josef Strauss, wonach es in Deutschland auf Dauer rechts von der CDU/CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe. Damit ist es nun vorbei: Bereits in drei Landtagen ist genau dieser Fall eingetreten. Für die Wähler gibt es rechts von CDU/CSU nun die „Alternative für Deutschland“ (AfD), die vor allem die Kunstwährung Euro abschaffen will. Daneben vertritt die AfD eine Reihe weiterer vernünftiger Positionen, die jenen der SVP nicht unähnlich sind.
Wie sollen sich CDU/CSU gegenüber der AfD verhalten? Noch ist lediglich klar, dass die Strategie des Ignorierens grandios gescheitert ist. Irgendwann wird man sich den neuen Verhältnissen stellen müssen. Ist Angela Merkel so prinzipienlos, dass sie am Ende auch das Programm der AfD – wie zuvor bereits jenes der Grünen – übernimmt? Wird sie schon bald der Wiedereinführung der Mark das Wort reden? Auch die coupartige Abschaffung der Wehrpflicht und den Ausstieg aus der Atomenergie hätte niemand für möglich gehalten.
Für die CDU/CSU wäre es höchste Zeit, über die nach-Merkel-Ära nachzudenken. Denn ewig wird „Mutti“ nicht im Amt bleiben. Und wer braucht schon eine Partei, die austauschbar ist mit ihrem Koalitionspartner?
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Erschienen im „Zürcher Bote“ vom 19. September 2014