Es ist offensichtlich, dass die Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte versagt hat. Noch nie gaben wir so viel Geld aus für Soziales – und trotzdem steigt die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger kontinuierlich. Höchste Zeit für einige grundsätzliche Fragen.
Bevor man ein Gesetz schreibt oder revidiert, sollte man eine gründliche Lagebeurteilung vornehmen. Nur so lässt sich der Kern des zu lösenden Problems ergründen, und nur so lässt sich bestimmen, welche Erfordernisse die zu ergreifende Massnahme erfüllen muss.
Politiker, die glauben, auf diese Vorarbeit verzichten zu können, nennen sich «lösungsorientiert». Wo immer sie ein Problem oder einen Missstand orten, fragen sie nicht nach den Ursachen und schon gar nicht danach, ob es überhaupt an ihnen ist, für Abhilfe zu sorgen. Sie sind von der Mission beseelt, die ganze Welt durch ihren guten Willen genesen zu lassen. Kollateralschaden kümmert sie nicht. Die Rechnung bezahlen andere.
Dank einer brillanten Dialektik schafft es diese Sorte Politiker, ihre Plattitüden bengalisch zu beleuchten. Wer kann beispielsweise schon etwas gegen «soziale Gerechtigkeit» haben? Oder gegen Massnahmen, die darauf abzielen, dass unerwünschte Entwicklungen gar nicht erst auftreten? Solche Begriffe sind der Nährboden für die Sozialindustrie. «Totale Gerechtigkeit» ist nie erreicht. Darum braucht es mehr Geld und mehr Personal! Auch ist eine Präventionskampagne nie ein Fehlschlag. Es liegt immer an zu wenig Geld und zu wenig Personal. Genial, nicht wahr?
«Solidarität» als Kampfbegriff
Auch der Begriff «Solidarität» ist aus der politischen Debatte nicht mehr wegzudenken. In seiner ursprünglichen Bedeutung – der wechselseitigen Unterstützung, beruhend auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit – wird er freilich nicht mehr gebraucht. Dank der von ihr geförderten Anspruchs-Inflation der letzten Jahrezehnte konnte sich die Sozialindustrie immer stärker etablieren. Freiwilligkeit wurde zunehmend durch gesetzlichen Zwang abgelöst und das ursprüngliche Prinzip des Gebens und Nehmens verwandelte sich in ein einseitiges und unverschämtes Fordern – und das bei einer wachsenden Zahl von immer mehr angeblich «Benachteiligten» und «Diskriminierten».
Wer auch nur zaghaft darauf hinweist, dass zum Recht auf Beistand auch die Pflicht zur Gegenleistung gehört, wird der sozialen Kaltherzigkeit bezichtigt, was angesichts der tatsächlichen Verhältnisse geradezu grotesk anmutet. Als beispielsweise der Deutsche Bauernverband vor einigen Jahren verzweifelt nach Erntehelfern suchte, gelang es ihm bei mehr als vier Millionen Arbeitslosen gerade einmal, 1264 deutsche Freiwillige zu mobilisieren. Fremdarbeiter aus dem Osten bildeten schliesslich den überwiegenden Teil der etwa 320000 benötigten Hilfskräfte. Ist wirklich kaltherzig, wer einem Teil der Verweigerer Bequemlichkeit unterstellt?
Nun werden manche einwenden, das beweise ja gerade, wie sehr «die Wirtschaft» auf Ausländer angewiesen sei. Doch selbst wer gerne mit dem Ausspruch von Max Frisch moralisiert, wonach man Arbeitskräfte gerufen habe, und Menschen gekommen seien, kann nicht behaupten, dass es vernünftig sei, die bestehenden Probleme durch eine Masseneinwanderung noch zu verschärfen.
Solidarität hat immer zwei Seiten. Doch trat an die Stelle der Einforderung von Gegenleistungen im Laufe der Zeit eine Hypermoral, die insbesondere von linken Intellektuellen gepflegt wird: Jedes Eintreten für die Umverteilung an weniger Begüterte stärkt die eigene Position und verschafft angenehme Gefühle, insbesondere dann, wenn es einen persönlich nichts kostet.
Verkehrte Welt
Als «sozial» wird in unseren geistig verarmten Medien und in der Polit-Szene nicht mehr derjenige bezeichnet, der der Gesellschaft dient, Wohlstand und Arbeitsplätze schafft, sondern wer umverteilt. Wer «die Reichen» verunglimpft und schröpft, um ihr Geld «den Armen» zu geben, wird als moderner Robin Hood gepriesen. Dies selbst dann, wenn diese «Politik» keineswegs selbstlos ist, und die «Ritter der sozialen Gerechtigkeit» fürstliche Profite einstreichen. Und während es Robin Hood vor allem darum ging, Ausbeuterei und Machtanmassung zu bestrafen, genügt den Umverteilern unserer Tage François Hollandes «Je n’aime pas les riches!» als geistige Richtschnur.
Die Forderung nach Zwangs-Umverteilung ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Forderung zur Bestrafung der Leistungsträger. Jene sollen sanktioniert werden, die mit ihrer Schaffenskraft für das Allgemeinwohl zuständig sind. Doch das ist ein Irrweg, der ab irgendeinem Punkt unfinanzierbar wird.
Wer gute Bedingungen schafft, soll von den Früchten seiner Arbeit profitieren können. Früchte kann jemand im freien Markt nur dann ernten, wenn er Produkte oder Dienstleistungen anbietet, die anderen einen Nutzen verschaffen. Eigennutz und Allgemeinnutzen fallen zusammen.
Dieser Prozess der Belohnung für Wohlstandsschaffende führt unausweichlich zu ungleichen Ergebnissen – auch wenn zu Beginn Chancengleichheit bestand. Was jedem Kindergärtner einleuchtet, wird von Sozialisten kategorisch abgelehnt. Sie wollen nach der Gleichheit vor dem Gesetz auch die Gleichheit im Ergebnis. Ungleichheit erscheint ihnen a priori als etwas Ungerechtes, woraus sie Massnahmen zur Umverteilung ableiten.
Dass es sozial gerecht ist, wenn der Fleissige mehr hat als der Faule, ist ein Gedanke, der ihnen fernliegt. Sie fragen beispielsweise nicht, wie es kommen konnte, dass der einst reiche und mächtige Kanton Bern armengenössig werden konnte. Ihnen genügt die Tatsache, dass es den Zürcherinnen und Zürchern besser geht. Also sollen diese gefälligst bezahlen!
Bloss nicht zulassen, dass es jemand besser macht!
Nur Weniges scheuen Sozialisten mehr als den Wettbewerb der Ideen und Systeme. Wenn es darum geht, ihre Konzepte und Lösungen dem Stahlgewitter der Realität auszusetzen, schwindet ihr Vertrauen in deren Überlegenheit. So verzichteten sie gerade eben kleinlaut auf die Einführung kantonaler Einheitskrankenkassen. Klar als Verlierer aus dem Wettbewerb der Systeme herauszugehen, wollte man dann doch nicht riskieren.
Wohltätigkeit zu Lasten Dritter
Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, der Sozialstaat sei gottgegeben, quasi ein Naturgesetz. Wenn es wirklich ausgemacht ist, dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit den gleichen unveräusserlichen Rechten ausgestattet wurden, dann muss ein Grund vorliegen, damit der eine Mensch dem anderen etwas gibt: Entweder er handelt aus reiner Nächstenliebe, woraus sich naturgemäss kein Anspruch ableiten liesse, oder er gibt, bevor es sich der andere nimmt.
Angesichts der historischen Tatsache, dass der Sozialstaat hart erkämpft werden musste, ist davon auszugehen, dass ihm letztlich rationale Erwägungen zugrunde liegen. Es besteht in der zivilisierten Gesellschaft ein Konsens, dass niemand auf unseren Strassen hungern oder verwahrlosen soll, was die Gefahr sozialer Unruhen in sich birgt. Um dem zu begegnen, sind die Vermögenden zu einer finanziellen Leistung bereit. Schon das antike «Panem-et-circenses» (Brot und Spiele) beruhte auf dieser Einsicht.
Aus dem Gleichgewicht
Das funktioniert so lange gut, wie sich das ganze System in einem Gleichgewicht befindet: «Die Armen» sind zufrieden und dankbar, dass ihnen geholfen wird, und «die Reichen» empfinden ihre Belastung als erträglich und haben nicht den Eindruck, dass sie betrogen werden. Gegenwärtig droht das System zu kippen: Es wird unbezahlbar, und es wird in einem beträchtlichen Ausmass betrogen.
Was die Sozialindustrie ihren Kritikern entgegenhält, nimmt bisweilen die Form einer Nötigung an. Etwa wenn Kosten für ein Sozialprojekt ganz offen damit gerechtfertigt werden, dass die Gefahr drohe, dass die potentiellen Nutzniesser kriminell werden könnten. Allerdings ist bisher der Nachweis nicht gelungen, dass solche als «Prophylaxe» propagierten Programme tatsächlich einen messbaren Nutzen haben.
Es ist festzustellen, dass unsere Behörden Partei geworden sind. Die Verwaltung und die mit ihr verbandelten Politiker interessieren sich nur noch für die Frage, wie sie an das Geld kommen, das zu verteilen ausgemachte Sache ist. Schon der Sprachgebrauch zeugt von einer verhängnisvollen Schieflage: Die Geber sind die «Steuerpflichtigen», die Empfänger die «Klienten». Was liegt näher, als sich gegen ein als ungerecht empfundenes System mittels Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung zur Wehr zu setzen?
Auch hierzulande besteht das Risiko, dass das Verhältnis zwischen den Nettozahlern und denen, die finanziell vom Staat abhängig sind, zu Ungunsten der Erstgenannten kippt. Der Staat wird dann auf völlig demokratische Art und Weise geschröpft. Fehlt das Geld, werden neue Einnahmequellen erschlossen: Neue und höhere Steuern, höhere Abgaben und Gebühren.
Diese Entwicklung ist extrem gefährlich. Sie ist zu einer Bedrohung für das Überleben der freien Gesellschaft geworden. Es ist bloss ein schwacher Trost, dass die Situation hierzulande relativ gesehen noch besser ist als in anderen Ländern. Es gibt viele Staaten, die an zu hohen Ausgaben gescheitert sind, doch ist in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Staat daran zugrunde gegangen, weil er bei den (Sozial-) Ausgaben Mass hielt.
Der Artikel erscheint am 18. Dezember 2014 in der Schweizerzeit.