Die Diskussion um den Vorrang von Völker- oder nationalem Recht verspricht zwar spannende intellektuelle Auseinandersetzungen, sie verdrängt aber eine Frage von viel grösserer Bedeutung: Was garantiert den Menschen mehr Freiheit, der Weg der Schweiz, der auf Volkssouveränität und Eigenverantwortung basiert oder ein zentralistisches System mit einer Machtelite, die sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen sucht?
Aus kaum nachvollziehbaren Gründen sind es häufig „Nicht-Argumente“, die in der politischen Auseinandersetzung den Ausschlag über Sieg und Niederlage geben. Zum Standardrepertoire von Politikern gehören: „Wer A sagt, muss auch B sagen“ oder „wehret den Anfängen!“. Sehr beliebt ist auch der Verweis auf die Zeit, bzw. die Abgrenzung zu einer vergangenen – vermeintlich schlechteren – Zeit: „Schliesslich leben wir im Jahr 2014!“ oder „Das ist modern! (Wann wollt Ihr das endlich begreifen, Ihr Ewiggestrigen?)“. Im Abstimmungskampf um den Wechsel von der Warenumsatzsteuer zur Mehrwertsteuer pries FDP-Ständerätin Vreni Spoerry letztere im Rahmen einer Podiumsdiskussion als „moderne Steuer“, woraus sie ableitete, man müsse dem Systemwechsel zustimmen. Der andere Podiumsteilnehmer, Nationalrat Christoph Blocher, stand diesem Schritt nicht grundsätzlich negativ gegenüber. Er stelle allerdings nüchtern fest: „Sowohl Warenumsatzsteuer wie Mehrwertsteuer sind in erster Linie Steuern.“ Ob modern oder nicht, liess ihn kalt.
Was nützt mir mehr?
Die gleiche Betrachtungsweise empfiehlt sich im Disput um den Vorrang von Völkerrecht oder nationalem Recht. Warum soll ich mich als freier Mensch nicht egoistisch für jenes Recht entscheiden, das meinen Interessen besser dient? Wenn das Völkerrecht mein Eigentum besser schützt, bin ich für das Völkerrecht. Und, wenn das Schweizer Recht meine politischen Rechte besser schützt, bin ich für das Schweizer Recht.
Schubert Praxis
Man mag dies als Rosinenpickerei betrachten, aber noch vor wenigen Jahren war das allgemeingültige Schweizer Rechtspraxis. Vom Bundesgericht begründet, trägt sie sogar einen Namen: „Schubert Praxis“. Zu beurteilen war der Fall eines österreichischen Staatsbürgers, eines gewissen Herrn Schubert, der im Tessin ein Grundstück kaufen wollte, was ihm von den Tessiner Behörden unter Berufung auf einen allgemein verbindlichen Bundesbeschluss aus dem Jahr 1970 untersagt wurde. Schubert wiederum berief sich auf einen Vertrag aus dem Jahr 1875 zwischen der Schweiz und der Österreichisch-ungarischen Monarchie, wonach er wie Schweizer Bürger zu behandeln sei.
Mit Urteil vom 2. März 1973 stellte das Bundesgericht folgenden Grundsatz auf: Wenn ein (neueres) Bundesgesetz einem (älteren) Staatsvertrag widerspricht und der Gesetzgeber ausdrücklich den Widerspruch zwischen Staatsvertrag und innerstaatlicher Norm in Kauf genommen hat, so sei das Bundesgericht an das Bundesgesetz gebunden.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Bundesgericht diese Praxis ausgerechnet in einem Fall begründete, in dem es um den Erwerb von Grundeigentum durch einen ausländischen Staatsangehörigen ging. Kaum jemand wehrt sich derzeit stärker gegen die Lockerung der so genannten „Lex Koller“ als die Sozialdemokraten unter Federführung von Nationalrätin Jacqueline Badran. Es sind dies die gleichen Kreise die heute so tun, als sei alles, was die Aufschrift „Völkerrecht“ trägt, automatisch besser, und jede Kritik daran von vornherein nationalistisch motiviert und daher verwerflich.
Zum Schutz der Persönlichkeit von Privatpersonen bestimmt das Zivilgesetzbuch in Artikel 27 aus nachvollziehbaren Gründen, dass niemand ganz oder zum Teil auf seine Rechts- und Handlungsfähigkeit verzichten kann, und weiter, dass sich niemand seiner Freiheit entäussern oder sich in ihrem Gebrauch in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden Grade beschränken kann. Das würde gewiss auch niemand tun, der bei klarem Verstand ist und noch einen Funken Selbstachtung im Leibe hat. Warum also soll sich ein blühender und äusserst erfolgreicher Staat auf Gedeih und Verderb einer fremden, sich in Entwicklung befindlicher Rechtsordnung unterwerfen? Wer das fordert, muss unlautere Ziele verfolgen.
Beitrittshürde „direkte Demokratie“
In Tat und Wahrheit geht es in der ganzen Diskussion natürlich – wie könnte es anders sein? – um den Beitritt zur EU, dem Paradies der internationalistischen Linken. Auf diesem Weg stellt die direkte Demokratie die wohl schwierigste Hürde dar. Hätten wir sie nicht, wäre die Debatte vollkommen überflüssig, da der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments ohnehin wollen, was die EU will.
In einem Anflug erfrischender Ehrlichkeit verkündete alt Bundesrat Joseph Deiss einst öffentlich und bis heute unwidersprochen, dass der EU-Beitritt für Bundesrat und Bundesverwaltung „ein in Arbeit befindliches Projekt“ sei, und es nun darum gehe, „Beitrittshürden zu beseitigen“. Eine solche stellt auch Artikel 190 der Bundesverfassung über das für Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebende Recht dar. Es sind dies „Bundesgesetze und Völkerrecht“. Und hier kommt die erwähnte Schubert-Praxis zur Anwendung. Diese richtet sich keineswegs gegen das Völkerrecht. Schliesslich wäre es unsinnig und ein Verstoss gegen den Grundsatz von „Treu und Glauben“, ohne die Absicht, sie auch einzuhalten, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen. Verträge sind einzuhalten. Das ist klar. Aber genau wie jeder andere Vertrag geändert oder gekündigt werden kann, gilt das auch für Verträge zwischen Staaten. Und mit dem Eingehen einer vertraglichen Bindung, verzichtet ein Staat nicht auf sein souveränes Recht, eine Rechtsmaterie zu einem späteren Zeitpunkt anders zu regeln. Selbstredend trägt er auch die Verantwortung für allfällige Konsequenzen.
Ein Vorschlag zur Güte
Es gibt auch Völkerrecht, das dermassen unumstritten ist, dass gegen seine Ratifikation nicht einmal das Referendum ergriffen wurde. Dazu gehört die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie wurde 1974 quasi als Ergänzung, oder besser Vervollkommnung der Bundesverfassung betrachtet. Letzterer fehlte es nämlich an einem umfassenden Katalog der Grund- und Freiheitsrechte. Das Bundesgericht, damals noch mit mehr Sinn für die Anliegen der Bürger gegenüber der Verwaltung, entwickelte diese zwar im Zuge seiner Rechtsprechung, doch man hatte es lieber schriftlich.
Das Ganze wäre also unproblematisch, würden die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht immer mehr Rechte usurpieren, von denen im Ratifizierungsprozess nie die Rede war. Niemand hätte damals geglaubt, dass es der Schweiz einmal von aussen verboten würde, Schwerkriminelle des Landes zu verweisen. Das Problem im Zusammenhang mit der EMRK, die klar zum Völkerrecht gehört, ist also nicht die Konvention an sich, sondern ihre Auslegung durch weltfremde, der demokratischen Kontrolle durch die betroffenen Völker entzogene Richter.
Das Problem liesse sich mit einem Handstreich lösen. Wir müssten dazu lediglich den gesamten Text der EMRK telquel ins schweizerische Recht übernehmen, zum Beispiel als Anhang der Bundesverfassung – und gleichzeitig die EMRK kündigen. Damit würde automatisch das Bundesgericht zuständig. Dann bräuchte die Vereinigte Bundesversammlung nur noch gute Richter zu wählen. Das dürfte sich zwar als nicht ganz einfach erweisen, aber immerhin hätten wir dann wieder ein Bundesgericht, das für einen souveränen Staat zuständig ist.
Ihr orientierungslos-aberwitziger Ritt durch die Rechtslandschaft beginnt mit einem fundamentalen Denkfehler. Die skizzierte „Rosinenpickerei“ funktioniert bei freiheitlichen Rechten ja gerade nicht, weil die Schubertpraxis gegen völkerrechtliche Freiheitsgarantien gerade nicht herangezogen werden konnte. Entgegen Ihrer Darstellung war eine „Rosinenpickerei“ pro nationale politische Rechte keineswegs „noch vor wenigen Jahren […] allgemeingültige Schweizer Rechtspraxis“; sie war nie zulässig.
Der Unsinn geht weiter, bis Sie mit einem noch viel gröberen Denkfehler abschliessen. Eine Übernahme der EMRK ins Schweizer Recht mit Kündigung der EMRK soll ernsthaft eine Lösung sein? Ihre Darstellung scheint zu verkennen, dass
1.) die EMRK schon vor 40 Jahren ins Schweizer Recht übernommen worden ist (Monismus),
2.) bei der Nachführung unserer Bundesverfassung die EMRK-Garantien weitgehend deckungsgleich auch als CH-Grundrechte in unsere Bundesverfassung aufgenommen worden sind,
3.) das Bundesgericht bereits heute für die direkt anrufbaren EMRK-Garantien zuständig ist, aber
4.) die Schweiz ja eben keine wirksame Verfassungsgerichtsbarkeit für Bundesgesetze kennt (BV 190), weshalb der Grundrechtsschutz in der Schweiz leichthin ausgehebelt werden kann und erst der EGMR hilft. Ihre Lösung „mit einem Handstreich“ würde einzig den Schutz der freiheitlichen Rechte gegen den Staat in einem Handstreich weitgehend wegwischen.
Dafür wollen Sie tatsächlich auch das Bundesgericht ins Spiel bringen, weil angeblich die „Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) […] immer mehr Rechte usurpieren, von denen im Ratifizierungsprozess nie die Rede war“? Das Problem sei, die „Auslegung durch weltfremde, der demokratischen Kontrolle durch die betroffenen Völker entzogene Richter“? Ist denn nicht – zum Glück – gerade dieses Bundesgericht wohl der grösste „Rechte-Usurpator“ ist, den es gibt? Weil es in unserer rückständigen BV 1874 auch nicht vorgesehene „ungeschriebene Grundrechte“ – zumeist aus der EMRK übernommen – wie die von Ihnen erwähnte Eigentumsgarantie, die persönliche Freiheit (einschl. Recht auf Leben) oder die Meinungsäusserungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit anerkannt hat? Sind Sie jetzt für oder gegen dynamische Rechtsentwicklung? Ist Ihnen denn nicht bewusst, dass ohne die Auslegung der „weltfremden, der demokratischen Kontrolle entzogenen Richter“ etwa im Appenzell weiterhin weltoffen-demokratisch alle Frauen vom politischen Prozess ausgeschlossen werden könnten? Wer eine solche gerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers nicht ablehnt, „muss unlautere Ziele verfolgen“?
Aus all dem unreflektierten Unsinn, der zu diesem Thema geschrieben wird, würde Ihr Text auch herausstechen, wenn ihn ein Erstsemestriger – und nicht ein Jurist und Nationalrat – geschrieben hätte.