Wer Argumente hat, braucht das freie Wort nicht zu fürchten

Meinungsäusserungsfreiheit ist der Dorn in der Seite der Mächtigen. Darum ist sie so wichtig, ja unverzichtbarer Bestandteil jeder freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Wo Meinungsäusserungsfreiheit herrscht, müssen die Regierenden ihre Entscheide begründen. Wo sie fehlt, macht sich Einfalt breit.Für den Mächtigen ist das Recht des kleinen Mannes, jederzeit ohne Furcht vor staatlicher Repression frei seine Meinung äussern zu dürfen, natürlich lästig. Das war schon immer so. Päpste setzten unliebsame Schriften auf den Index und schickten brillante Denker wie Giordano Bruno auf den Scheiterhaufen. Auch den französischen Königen fehlten die Argumente für die unterschiedliche rechtliche Behandlung der verschiedenen Stände. Man behalf sich mit Zensur und brutaler Verfolgung der Kritiker. In der Sowjetunion sorgte der berüchtigte Paragraf 58 („konterrevolutionäre Tätigkeiten“ und „antisowjetische Agitation“) für Disziplin. Und falls ein Proletarier an der „Diktatur des Proletariats“ Kritik übte, warteten Gulag oder Lubjanka auf ihn. Und auch bei der Gestapo scherte man sich nicht um die Meinungsfreiheit, als die Mitglieder der „Weissen Rose“ Flugblätter gegen das Nazi-Regime verteilten. Für sie stand das Fallbeil parat.

Eher neu ist, dass Journalisten die Meinungsäusserungsfreiheit infrage stellen, wie dies im Tages-Anzeiger vom vergangenen Montag mit Bezug auf die Islamdebatte geschehen ist. Die dort geforderte Stärkung der Religionsfreiheit läuft zwangsläufig auf eine Zensur hinaus. Doch die Religionsfreiheit schützt nicht Religionen. Sie schützt das Recht jedes Individuums, in religiösen Fragen ohne Furcht vor staatlicher Einflussnahme eine Meinung zu haben, und die eigene Religiosität nach Belieben zu praktizieren. Auch Atheisten, Agnostiker und Religionsgegner können sich auf sie berufen. Sie ist eine Ergänzung, ja sogar Bekräftigung, der Meinungsäusserungsfreiheit und nicht deren Gegenpol. Zensur – und sei sie noch so gut gemeint – lässt sich mit ihr jedenfalls nicht rechtfertigen.

Vor der Einführung der Antirassismus-Strafnorm wurde dem Schweizervolk versichert, die Meinungsäusserungsfreiheit bleibe gewahrt. Nur „ganz schlimme Vergehen“ wie die „systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion“ würden bestraft. Und der „Stammtisch“ gelte nicht als „öffentlich“. Das Bundesgericht strafte diese Beteuerungen Lügen. Wer soll die Grenzen ziehen? Wo sollen diese liegen? Und wer kontrolliert die Kontrolleure? Der Tages-Anzeiger oder Georg Kreis?

Wie leicht ist es in der Theorie, Rosa Luxemburg zu zitieren, die die „Freiheit der Andersdenkenden“ einforderte? Wie rasch ist der Voltaire zugeschriebene Ausspruch wiederholt „Ich lehne Ihre Meinung ab, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“? Die Praxis sieht anders aus: Hiess es zurzeit des Kalten Krieges noch: „Lieber rot als tot“, genügen mittlerweile ein paar beleidigte Muslime, um unsere Intellektuellen kapitulieren zu lassen. An der Universität Yale erschien kürzlich ein wissenschaftliches Werk über den Karikaturenstreit. Aus falscher Rücksicht wurde auf den Abdruck der inkriminierten Karikaturen verzichtet. Die Leute hätten sonst realisieren können, aus welch nichtigem Anlass fanatische Muslime zu Mördern und Brandschatzern werden.

Unweit vom Ground Zero soll ein muslimisches Gebetszentrum errichtet werden. Das ist zwar legal, aber für viele Amerikaner eine Provokation. Und da gibt es eine evangelikale Splittergruppe, die am Jahrestag von „9/11“ Koranausgaben verbrennen wollte. Das ist zwar verwerflich, aber nicht weniger eine Provokation und genau so legal wie der Bau der Moschee. Gleichwohl wird in Intellektuellenkreisen mit zweierlei Ellen gemessen.

Wer Toleranz einfordert und aus diesem Grund den Moscheebau begrüsst, die Koranverbrennung hingegen verurteilt, ergreift Partei. Das ist zwar legitim, doch ist das Argument der Toleranz vollkommen verfehlt. Denn der politische Islam – und nur um diesen geht es – ist der Inbegriff der Intoleranz. Unsere Toleranz interpretiert er zu Recht als Schwäche.Wer in Freiheit leben will, hat sich dafür weder zu schämen noch zu entschuldigen. Im Gegenteil, er muss dafür kämpfen und sich gegen jede Bedrohung zur Wehr setzen. Benjamin Franklin wusste: „Diejenigen, die für ein bisschen vorübergehende Sicherheit grundlegende Freiheiten aufgeben, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.“ („Those who would give up essential Liberty to purchase a little temporary safety, deserve neither liberty nor safety). Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Erschienen im Tages-Anzeiger vom 18. September 2010.

3 Gedanken zu „Wer Argumente hat, braucht das freie Wort nicht zu fürchten“

  1. Ironie der Geschichte: dieser Kommentar wirkt im Tagi wie ein „Bettagsmandat“. Dass am 19. September Eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag ist merkt bei der Tamedia niemand mehr.
    Das Verhältnis von Religions- und Pressefreiheit ist tatsächlich ein diffiziles. Und man kann nicht genug daran erinnern, dass die Väter dieser Rechte eigentlich nur eine christliche „Konfessionsfreiheit“ meinten.

  2. Ich hoffe, Herr Zanetti hat die Leserbrief-Reaktionen auf seinen Artikel gelesen. Denen ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Nur eines: Ich warte darauf, dass Herr Zanetti auch die Provokationen von Künstlern wie Hirschhorn, Marthaler oder Schlingensief, sowie den Schiffskran oder das Nagelhaus so engagiert verteidigt.

  3. Ich habe schon lange nichts mehr gelesen, dass das Thema „Meinungs-Freiheit“ so auf den Punkt bringt. Vielen Dank für diesen hervorragenden Artikel.

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