Referat anlässlich der Staatsschreiberkonferenz vom Freitag, 14. September 2018 in Genf im Musée International du Croix Rouge.
Haben Sie vielen Dank für die Einladung zu Ihrer Konferenz. Obwohl Genf – von Gossau im schönen Zürcher Oberland aus betrachtet – nicht gerade am Weg liegt, bin ich aus zwei Gründen gerne hierhergekommen: Erstens geht es um eine wichtige Angelegenheit, und zweitens passt diese Stadt hervorragend zu unserem Thema. Vor 270 Jahren veröffentlichte Charles de Secondat, Baron de la Brède et Montesquieu nämlich hier in Genf sein berühmtestes Werk « De l’Esprit des Loix ». Er musste das übrigens anonym tun, weil die Erfahrung jener Tage lehrte, dass es tödlich sein kann, wenn die Obrigkeit zu viel über ihre Untertanen weiss. Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich in westlichen Demokratien der freiheitliche Grundsatz entwickelt, dass die Stimmabgabe anonym möglich sein muss. Damit ist bereits eine der vielen Fragen rund um E-Voting angesprochen.
Der Spezialist der Bundeskanzlei hat Ihnen soeben dargelegt, dass die Fachleute der Bundeskanzlei dieses Problem gelöst haben. Und ich bin sicher, dass er und sein Team nur von den besten Absichten getrieben sind. Ich verfolge E-Voting-Projekte schon seit meiner Zeit in der GPK des Kantons Zürich, die ich auch präsidieren durfte. Ich hatte immer den Eindruck, dass da sehr kluge Männer und Frauen am Werk sind, die nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten. Ich bin aber auch sicher, dass die wenigsten hier im Saal wirklich verstanden haben, was Herr Spycher in technischer Hinsicht gesagt hat. Schliesslich dürften die meisten von Ihnen Juristen sein, wie auch der Sprechende.
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Es ist aber etwas anderes, das mich dazu veranlasste, mit Montesquieu zu beginnen. Nämlich das berühmte Zitat aus seinem Buch: «S’il n’est pas nécessaire de faire une loi, alors il est nécessaire de ne pas en faire une». – Gemeint ist hier natürlich nicht nur ein Gesetz im formellen Sinn, sondern grundsätzlich alle staatlichen Massnahmen, die einen Einfluss auf das Leben und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger haben, was bei E-Voting zweifellos der Fall ist. Wir haben ein System das bestens funktioniert. Warum sollten wir uns also ohne Not verwundbar machen? Es stimmt: Der Computer kann uns darauf aufmerksam machen, wenn wir zu viel kumulieren und er verhindert, dass wir Namen falsch schreiben. Es gäbe dadurch weniger ungültige Stimmen. Aber solche Probleme lösen wir gescheiter durch die Wiedereinführung eines vernünftigen Staatskundeunterrichts.
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E-Voting spaltet die Menschen in zwei Lager: Da sind auf der einen Seite jene, die daran glauben, und auf der anderen Seite jene, die daran glauben müssen. – Das ist übrigens auch der fundamentale Unterschied zum E-Banking, wo ich als Kunde vertraglich ein kalkulierbares, und sogar versicherbares Risiko eingehe. Bei jedem Einloggen werde ich von der Bank sogar ausdrücklich darauf hingewiesen. Und wenn etwas schiefgeht, trifft der Schaden nur die beteiligten Vertragspartner, also mich oder die Bank. Wer E-Banking nicht nutzt, hat nichts zu befürchten. Von E-Voting hingegen sind wir alle betroffen egal, ob wir es nutzen oder nicht. Darum ist auch der Hinweis, die Einführung sei fakultativ und den Kantonen überlassen, blosse Augenwischerei.
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Geschätzte Damen und Herren, es geht in einer Demokratie nicht nur darum, dass abgestimmt wird. Entscheidend ist, dass sich die Minderheit dem Willen der Mehrheit fügt. Ich kann Ihnen versichern: Ich habe in meinem Leben schon viele Abstimmungen verloren, und ich hatte noch nie ein Problem damit, ein demokratisches Resultat anzuerkennen. Aber am Sonntagabend nach der Abstimmung zählt für mich nur das Gefühl oder die Zuversicht, dass alles mit rechten Dingen abgelaufen ist. – Wer zulässt, ja erst die Möglichkeit schafft, dass Abstimmungsergebnisse in Zweifel gezogen werden können, vergiftet die Demokratie, und für eine Referendumsdemokratie, wie die unsrige, dürfte dieses Gift sogar tödlich sein. Es braucht nicht einmal tatsächlich zu Manipulationen gekommen zu sein. Gerüchte und Verweise auf die kleinsten Störungen genügen als Samen des Misstrauens. Faktisch käme es zu einer Beweislastumkehr, und die Behörden müssten plötzlich beweisen, dass alles ordnungsgemäss gelaufen ist, was in der Praxis kaum möglich ist.
Ich werde mich in aller Regel zwar nicht persönlich von der Richtigkeit des Ergebnisses überzeugen, indem ich nachzähle. Aber ich weiss, dass dies theoretisch möglich ist. Das gibt mir Sicherheit und schafft Vertrauen. Genau an dieser Stelle hakt übrigens das deutsche Bundesverfassungsgericht ein: Mit Urteil des Zweiten Senats vom 3. März 2009 stellte es fest, dass alle wesentlichen Schritte von Wahlen (und Abstimmungen) öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen[, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen.] Die wesentlichen Schritte der Wahl- (und Abstimmungs-)handlung und der Ergebnisermittlung müssten darum vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. – Meine Damen und Herren, sind wir schon so weit, dass wir uns von unserem nördlichen Nachbarn die rudimentären Spielregeln der Demokratie erklären lassen müssen?
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Ich will niemandem böse Absichten unterstellen. Aber es kann doch nicht sein, dass wir nach jeder Volksabstimmung auf das Verdikt der Computerexperten angewiesen sind.
Wenn sie sagen, es sei alles bestens abgelaufen, müssen wir es glauben. Wenn sie sagen, es sei zwar zu Störungen gekommen, aber diese hätten behoben werden können, müssen wir das glauben. Und wenn Sie sagen, es sei etwas schief gelaufen, aber man wisse nicht genau was, es sei darum besser, die Abstimmung zu wiederholen, müssen wir das glauben. – Und wie sieht es aus, wenn eine Schwachstelle erst nach Jahren entdeckt wird?
Meine Damen und Herren das sind keine Szenarien aus einem Horrorfilm. Das ist Realität. Es vergeht kein Tag, an dem unsere Medien nicht von Sicherheitslecks und Datendiebstahl berichten. Der deutsche Bundestag musste als Folge eines Angriffs für längere Zeit den elektronischen Datenverkehr einstellen, und die Amerikaner streiten noch nach zwei Jahren, wer wie ihre Präsidentenwahl beeinflusst hat. Dass sie selbst es über Jahrzehnte für absolut legitim hielten, durch die CIA Wahlen – selbst in befreundeten Staaten! – zu manipulieren, steht freilich auf einem anderen Blatt. Tatsache ist jedenfalls, dass Staaten zu solchen Mitteln greifen. Ja, an der „l’Ecole de Guerre Economique“ kann man lernen, wie das geht. Unter www.ege.fr können Sie sich selbst davon überzeugen. – Übrigens: In einem der berühmten „Snowden-Papiere“ ist nachzulesen, wie die NSA genüsslich feststellt, dass E-Voting und Anlagen zur Industrie- und Vorsorgesteuerung geradezu darum bettelten, ausgenutzt zu werden. – Das ist wohl auch der Grund, weshalb sich Deutschland (2009), Norwegen (2014), Frankreich (2017) und Finnland (2017) gegen die Einführung von E-Voting aussprachen.
Wie sieht es in der Schweiz aus? Der Angriff auf die Ruag wurde erst nach 18 Monaten bemerkt. Aber nicht etwa von unseren heimischen Cracks. Es waren ausländische Nachrichtendienste, die uns informieren mussten, dass wir hier, in der hochtechnisierten Schweiz einen hochtechnisierten staatlichen Rüstungsbetrieb haben, der sich Daten klauen lässt.
Auch das EDA und das VBS wurden angegriffen. Und erst kürzlich musste die Staatsanwaltschaft eingestehen, dass man nicht weiss, woher der Angriff gekommen ist und dass man die Untersuchungen nach zwei Jahren einstellt. Nun ist es natürlich möglich, dass man es zwar eigentlich schon weiss, aber aus irgendwelchen Gründen nicht bekanntgeben will. Aber dann frage ich mich: Warum soll ich einer Regierung in zentralen Fragen der Demokratie vertrauen, wenn sich mich in zentralen Fragen der nationalen Sicherheit belügt?
Die Antworten des Bundesrats auf meine Interpellation zu E-Voting sind jedenfalls auch nicht geeignet, um mein Vertrauen in die Institutionen zu stärken. Wenn Sie sich die Mühe machen sollten, den Vorstoss 18.3057 im Internet zu suchen, werden Sie selber feststellen, dass von fünf Fragen nur jene nach den Kosten korrekt beantwortet wurde. Der Rest ist Geschwurbel. Ja, ich würde sogar von einer Verletzung des verfassungsmässigen Grundsatzes sprechen, wonach der Staat nach „Treu und Glauben“ zu handeln hat.
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Natürlich kann man auch eine Urnenabstimmung manipulieren, und leider müssen sich unsere Gerichte hin und wieder mit solchen Fällen beschäftigen. Ich glaube aber doch, dass zwischen Manipulationen von Stimm- und Wahlzetteln und der Manipulation am Computer gewichtige Unterschiede bestehen: Erstere ist in unseren dezentralen Strukturen sehr aufwendig und damit so teuer, dass sie sich kaum lohnt. Am Computer lässt sich wesentlich mehr und günstiger erreichen.
Ich bin überzeugt: Wer einen Stimm- oder Wahlzettel fälscht, hat ein anderes Unrechtsbewusstsein als ein Hacker. Natürlich geht es beiden darum, das Ergebnis in ihrem Sinn zu beeinflussen, aber für den Hacker ist es mehr. Für ihn ist es eine Art Sport. Er will besser sein, als Herr Spycher und seine Männer und Frauen. Dem Hacker winken in der Szene Ruhm und Ehre. Und die Bundeskanzlei müsste, demjenigen, dem es gelingt, ihn und sein todsicheres System zu überlisten, im Grunde einen Pokal überreichen.
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Meine Damen und Herren: Demokratie ist nicht die Staatsform des Vertrauens, wie die deutsche Bundeskanzlerin Merkel einmal behauptete. Demokratie ist die Staatsform des institutionalisierten Misstrauens. Nur in die Demokratie selbst und in die Korrektheit ihrer Abläufe müssen wir Vertrauen haben können. Und, so leid es mir tut: Wenn die Behörden mir zureden und mit PR-Massnahmen um mein Vertrauen buhlen, macht mich das eher misstrauisch. Darum ist E-Voting Gift für die Demokratie. Und darum sollten wir die Hände davon lassen!