Unsere einheimischen Genossinnen und Genossen sind immer wieder für eine Überraschung gut. In diesen Tagen behaupten sie beispielsweise allen Ernstes, Wilhelm Tell würde ihre Steuervereinheitlichungsinitiative unterstützen. Einige Mitglieder wollen den wackeren Schützen sogar am Parteitag in Lausanne gesehen haben, obwohl uns Vertreter des historischen Materialismus seit Jahren eintrichtern, es habe ihn überhaupt nicht gegeben. Doch im Politbüro ist man davon überzeugt, der Schweizer Freiheitsheld habe nach über 700 Jahren seinen Überzeugungen abgeschworen, sei zum Sozialisten mutiert und wolle nun ebenfalls den Kapitalismus überwinden und die Armee abschaffen. Dass dem nicht so ist, werden die sozialdemokratischen Parteistrategen schon bald merken. Im Februar wird nämlich über die Volksinitiative „Für den Schutz vor Waffengewalt“ abgestimmt. Da ist Tell denkbar ungeeignet als Werbeträger. Vor dem Weg nach Küssnacht in die Hohle Gasse erst ins Zeughaus? Der Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit würde gewiss lieber sterben, als sich entwaffnen lassen. Auch ein Plakat auf dem der Urner mit geschulterter Armbrust für den EU-Beitritt wirbt, kann man sich schwerlich vorstellen. Aber wer weiss? Vielleicht bringt Levrats Komikertruppe selbst dieses Kunststück fertig.
Die Schweizer Sozialdemokratie strotzt derzeit vor eklatanter Konzeptlosigkeit. Und während normale Parteien Programmtagungen zu deren Überwindung durchführen, nutzen unsere Sozis die Gelegenheit, die Gräben noch zu vertiefen. Es ist grotesk: Da werden von der Basis Grundsatzentscheide gefällt, und die Nomenklatur macht umgehend klar, dass sie diese bestenfalls als Empfehlungen oder Richtwerte zu akzeptieren gedenkt. Entweder haben die National- und Ständeräte Daniel Jositsch, Andy Tschümperlin, Evi Allemann, Prisca Birrer-Heimo, Hans-Jürg Fehr, Mario Fehr, Anita Fetz, Chantal Galladé, Edith Graf-Litscher, Bea Heim, Claude Janiak, Beat Jans, Eric Nussbaumer, Silvia Schenker, Ursula Wyss und Roberto Zanetti, die sich allesamt gegen die von den Delegierten beschlossene doppelte Nein-Parole zu Ausschaffungsinitiative und Gegenvorschlag stellen, in ihrer Partei keinerlei Gewicht, oder sie stellen ihr Eigeninteresse über jenes der Partei. In beiden Fällen wären die betreffenden Genossinnen und Genossen bei der BDP besser aufgehoben. Auch dort lebt man auch auf Kosten anderer. Die sozialdemokratische Basis hat eine solche Geringschätzung durch die eigene Parteileitung jedenfalls nicht verdient.
Mir als Bürgerlicher und SVPler kann es im Prinzip nur Recht sein, wenn sich die Feinde des Kapitalismus in den Haaren liegen und als wilder Haufen auf die nächsten Wahlniederlagen zusteuern. Doch als Staatsbürger empört mich solche Prinzipienlosigkeit. Erst recht, wenn sie als Pragmatismus schöngeredet wird. Was ist von einer Partei zu halten, die, angeblich dem Feminismus verpflichtet, Frauenquoten fordert und gleichzeitig der Islamisierung Tür und Tor öffnen will? Was ist von einer Partei zu halten, die Abzockerei anprangert, während sich ihre Funktionäre im grossen Stil aus der Staatskasse bedienen? Was ist von einer Partei zu halten, die behauptet, für „den Büezer“ da zu sein, in der Realität aber kaum eine Gelegenheit auslässt, um diesem das Leben zu erschweren und zu verteuern?
Wer über mehrer Jahre an einem neuen Parteiprogramm arbeitet, Programmtagungen und Vernehmlassungen durchführt, Tausend Anträge von Parteimitgliedern bearbeitet und sich zur Endberatung zwei Tage lang in einen fensterlosen Saal einschliesst, um sich postwendend vom Resultat zu distanzieren, ist entweder masochistisch veranlagt, undemokratisch, oder spinnt ganz einfach. Dass der Genosse Parteipräsident und die Genossin Fraktionspräsidentin bereits eine Reihe von Parteitagsbeschlüssen infrage stellen, macht die Sache keineswegs besser. Schliesslich machen dies beide aus rein wahltaktischen Erwägungen.
Damit tritt einmal mehr der von Churchill beschriebene Unterschied zwischen Politikern und Staatsmännern zutage: Erstere denken an die nächsten Wahlen, Letztere an die nächste Generation. Am Umgang mit dem eigenen Parteiprogramm zeigt sich die Ernsthaftigkeit gegenüber der Politik – und die Aufrichtigkeit gegenüber den Wählerinnen und Wählern.
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Erschienen in der Berner Zeitung vom 13. November 2010.